Die Zukunft des Universums

Zufall, Chaos, Gott?

Arnold Benz

Einleitung

Als junger Physikstudent hörte ich zum ersten Mal vom Theologen Karl Barth, der postulierte, Naturwissenschaft und Glaube hätten nichts, aber auch gar nichts miteinander zu tun. Wie diese These zu mir drang, weiss ich nicht mehr, aber ich erinnere mich an das Gefühl, das sie in mir hervorrief, als sei es gestern gewesen: Ich fühlte mich befreit vom Zwang der Gottesbeweise. Denn die Argumente einer sogenannten natürlichen Theologie, die aus Erkenntnissen über die Natur Gottes Existenz beweisen und seine Eigenschaften ergründen will, fand ich bemühend, unaufrichtig und vereinnahmend. Und nun sagte ein Theologe, dass Gott "ganz anders" sei und dass man ihn nicht wie den Energiesatz aus Messungen und Beobachtungen herleiten könne. Genau das entsprach auch meinem Empfinden angesichts der täglichen Flut von Formeln und Experimenten. Was ist dann aber dieser Gott? Ist Gott in unserer naturwissenschaftlich geprägten Zeit überhaupt noch denkbar? Diese Fragen haben mich auch weiterhin beschäftigt und um sie geht es in diesem Buch.

Die Trennung von Theologie und Naturwissenschaft hat sich zumindest von Seiten der Theologie durchgesetzt. Die grossen Dispute, verbunden mit den Namen Galilei und Darwin, sind in den Hörsälen verklungen. Galilei ist rehabilitiert. Es gelten die Regeln der höflichen Distanz.

Dennoch taucht das Wort Gott in allgemein verständlichen Werken über die moderne Physik wieder vermehrt auf. Der Begriff erscheint dort meistens im Zusammenhang mit ungelösten Fragen der Kosmologie, des Lebens, des menschlichen Bewusstseins oder der physikalischen Wirklichkeit, welche heute die grossen Rätsel der Natur und die Leitziele der naturwissenschaftlichen Forschung darstellen. Diese zwar naheliegenden Berührungsorte haben aber den Dialog nicht in Fahrt gebracht und sind offensichtlich nicht die richtigen Startpunkte für Kontakte. Der Grund liegt darin, dass von physikalischer Seite häufig ein Gottesbild der natürlichen Theologie vorausgesetzt wird, von dem sich die heutigen Theologinnen und Theologen längst distanziert haben. Vermehrt gibt es auch von der Theologie her wieder Interesse an der anderen Seite, nicht zuletzt, weil sich ethische und weltanschauliche Werte heute nur in einer Sprache vermitteln lassen, welche die Naturwissenschaften einbezieht. Auch ist die Vorstellung tief in der religiösen Tradition verwurzelt von einem, wenn vielleicht auch nicht erkennbaren gemeinsamen Ganzen der Wirklichkeit.

Es ist nicht das Ziel dieses kleinen Buches, eine vereinheitlichte Theorie von Glaube und Naturwissenschaft zu entwerfen. Die beiden Bereiche menschlicher Erfahrung, will man sie beide ernst nehmen, sperren sich gegen nahtlose Übergänge und völlige Harmonisierung. Die Grenze bleibt bestehen, aber sie soll überschritten werden. Dabei müssen die Regeln im jeweiligen Gebiet beachtet werden. Ist diese meine abenteuerliche Exkursion in fremdes Territorium nicht ein halsbrecherisches Unterfangen? Sollten Naturwissenschaftler ihre bescheidenen und oft laienhaften Einsichten in Kultur und Religion nicht besser für sich behalten? Solche Fragen und Bedenken habe ich viele gehabt, aber schliesslich hinter mir gelassen, denn sie versperren wie Grenzwälle die Sicht aus dem eigenen Gebiet und auf die eigentliche Aufgabe in der Gesellschaft: Die Naturwissenschaft hat in den vergangenen vierhundert Jahren grundlegende Umwälzungen im menschlichen Selbstverständnis und in unserer Gesellschaft bewirkt und verändert sie weiter. Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler können sich aus ihrer Verantwortung dafür nicht herausstehlen. Sie sind aufgerufen, ihre subjektiven und auch vorläufigen Ansichten preiszugeben.

Bei meinen häufigen populärwissenschaftlichen Vorträgen fällt mir auf, wie Zuhörerinnen und Zuhörer mir nach den präsentierten Fakten und Zahlen unbeirrt weltanschauliche und religiöse Fragen stellen. Beim Hinausgehen sagte mir einmal ein junger Mann: "Wenn das Universum so gross ist, wie Sie es dargestellt haben, muss Gott ja noch viel grösser sein." Nicht die subtilen Probleme der Sternentwicklung noch die ungelösten Fragen der Galaxien-Entstehung haben ihn berührt, sondern eine Glaubensfrage, über die ich kein Wort verloren hatte. Wenn Fachleute ihr Wissen völlig rational vortragen, fühlen sich Laien durch dieses Wissen oft existentiell angesprochen und erleben ihr Ich als einen Teil des Kosmos. Einige entwickeln sogar eine persönliche Beziehung zu den Himmelskörpern. Sie wollen nicht nur ursächliche Erklärungen der Naturphänomene hören, sondern wünschen eine emotionale Verbindung, ein kommunikatives Erlebnis mit dem Kosmos oder möchten ganz einfach staunen.

Ich gehe in diesem Buch von der Annahme aus, dass Glaube und Naturwissenschaft zwei verschiedene Wege sind, Wirklichkeit zu erfahren. Mit Karl Barth bin ich auch heute noch der Meinung, dass sich Glaubensaussagen und wissenschaftliche Theorien nicht in ein direktes Verhältnis setzen lassen: Das eine folgt nicht zwingend aus dem anderen, das eine kann das andere weder beweisen noch widerlegen. Beide beruhen auf menschlichen Erfahrungen, keines kann sich als die volle Wahrheit ausgeben. Glaube und Naturwissenschaft bewegen sich auf verschiedenen Ebenen, die sich nicht schneiden. Von einer übergeordneten Warte aus, mathematisch gesagt in einem Metaraum, können sie jedoch eingeordnet und von einem beidseitig aufgeschlossenen Betrachter in Beziehung gebracht werden.

In diesem Buch sollen beide, Glaube und Naturwissenschaft, ernst genommen werden. Mit Glaube meine ich die je persönliche Verfahrensweise, Gott, die Welt und die eigene menschliche Existenz in Verbindung zu bringen. Ich bediene mich dabei des Religionssystems des Christentums, dessen theologische Konzepte mir wichtige Werkzeuge und tiefe Erkenntnisse liefern. Ernst nehmen bedeutet hier, dass ich mich nicht nur auf die mir in meiner Jugend vermittelten Kenntnisse verlasse, sondern mich nach Möglichkeit auf den neusten Stand der Theologie beziehe. Damit grenze ich mich auch ab gegen eine ganze Reihe von Physikern vor allem aus dem angelsächsischen Bereich, welche Religion auf eine bescheidene Metaphysik reduzieren, um Fragen zu beantworten, auf welche die Naturwissenschaft keine Antwort weiss, oder auch nur um dann zu zeigen, dass es diesen metaphysischen Gott nicht braucht. Unausgesprochen übernehmen sie damit ein Gottesbild der Aufklärung, welches weder das einzig mögliche noch ein theologisch zeitgemässes ist.

Auch die Naturwissenschaft will ernst genommen werden. Wenn wir auch seit Karl Popper wissen, dass alle naturwissenschaftliche Erkenntnis und alle Theorien falsifizierbar und vielleicht mit Irrtum behaftet sind, bewähren sie sich doch gut genug, um auf den Mond zu fliegen und gesund zurückzukehren. Die Naturwissenschaft lässt sich ihre Wirksamkeit nicht nehmen; es sei auch an ihre bisweilen gefährlichen Anwendungen in der Atom- und Gentechnologie erinnert. Eine andere Art des Nichternstnehmens ist das Herauspicken jener naturwissenschaftlichen Befunde, welche mit vorgefassten Meinungen scheinbar verträglich sind. Das Ausblenden missliebiger Teile ist dabei keineswegs auf fundamentalistische Kreise beschränkt.

In diesem Buch wird die These vertreten, dass es sinnlos ist, Gott im ersten Augenblick des Urknalls zu suchen. Die meisten uns wichtigen Dinge sind erst nachher und nicht deterministisch aus den Anfangsbedingungen entstanden. Ich bezweifle auch, dass Gott in den Beobachtungen und Gleichungen der Naturwissenschaft erscheinen kann, nicht einmal in einer der noch bestehenden Erklärungslücken. Gotteserfahrungen verlangen vielmehr eine ganz andere Art der Wahrnehmung als die naturwissenschaftliche Forschung.

Beim Schreiben habe ich an Leserinnen und Leser gedacht, die fasziniert sind von der überwältigenden Fülle neuer Erkenntnisse der Naturwissenschaft unserer Tage, aber weder auf dem allerneusten Wissensstand sind, noch alle Details erfahren wollen. Mein vorgestelltes Gegenüber interessiert sich auch für unsere hergebrachte Kultur und insbesondere ihren Kern, die Religion, die angesichts der weltweiten kulturellen Umwälzungen nicht konserviert, sondern neu entdeckt werden muss. Ich habe versucht, kein Fachwissen vorauszusetzen. Wo Fachwörter nicht näher erklärt werden, ist anzunehmen, dass ihre lexikalische Bedeutung unwichtig ist oder in einem späteren Zusammenhang eingeführt wird. Zuweilen habe ich auch mit mir selber als Gegenüber gesprochen und vielleicht am meisten dabei gelernt. Wenn ich davon etwas zum Nachdenken oder zur Diskussion weitergeben kann, freut es mich.

Es geht hier nicht um erkenntnistheoretische Unverbindlichkeiten. Echte Religion betrifft den innersten Bereich des Menschen, ansonsten bleibt sie eine belanglose Metaphysik. Ich bin mir bewusst, dass ich mit diesem sehr persönlichen Buch den sicheren Konsens abgeschlossener Wissenschaftskommunitäten verlasse, und lade Sie, liebe Leserin und lieber Leser, ein, mich auf dieser wagemutigen Reise in kaum erforschtes und doch menschlich naheliegendes Grenzgebiet zu begleiten. Die Vermittlung zwischen den beiden Wahrnehmungsebenen von Naturwissenschaft und Religion ist wohl das grösste geistige Abenteuer unserer Zeit. Dabei geht es darum, sich in der modernen Welt zu orientieren, dem Sinn des Ganzen nachzuspüren, um dadurch das riesige, von den Naturwissenschaften prospektierte Neuland geistig zu kultivieren und damit erst für uns Menschen bewohnbar zu machen. Es ist eine Reise der verschiedenen Wahrnehmungen, die uns auch an den Graben führen wird, der Glaube und Naturwissenschaft trennt. Im Mittelpunkt steht die entscheidende Frage: Was haben wir von der Zukunft zu erwarten und zu erhoffen?